Am 20. Dezember 2021 präsentierte “Het Nieuwstedelijk” in Löwen eine einmalige, deutsche Aufführung der Theatervorstellung Frieden, Liebe und Freiheit – eine deutsch-flämische Koproduktion über zwei Männer und eine Frau mit verschiedenen Nationalitäten und verschiedenen sozialen und politischen Hintergründen und Meinungen. Sie begegnen sich in einem Hotel in Frankreich während man sich vorbereitet, den Vertrag von Versailles zu unterzeichnen. Die Idee dieser Vorstellung stammt von Jörg Vorhaben, Hauptdramaturg des Staatstheaters Mainz. Er hat Stijn Devillé, Regisseur und Schriftsteller der niederländischen Version des Theaterstücks, vorgeschlagen, um mit „Het Nieuwstedelijk“ eine Koproduktion auf die Beine zu stellen. “Stijn und ich kennen uns schon elf oder zwölf Jahre,” erwähnt Vorhaben. “Vor vier Jahren bin ich auf ihn zugegangen und habe ihm ein Buch gegeben, nämlich Deutsch, die Friedensmachine: ein amerikanisches Buch über den Versailler Vertrag. Und ich habe ihn gefragt, ob dieser Vertrag kein interessantes Thema für ein Theaterstück sei.”
Das Staatstheater Mainz hatte schon ein wenig Erfahrung in der Zusammenarbeit mit niederländischen und flämischen Theatergesellschaften. Jörg Vorhaben hatte u.a. schon mit De Koe, De Freskaat in Amsterdam, Het Noordnederlands Toneel und De Kopergieterij zusammengearbeitet. “Den flämischen Stil und die Spielweise finde ich sehr interessant und ich finde das auch besonders vorteilhaft für das deutsche Theater,” meint Vorhaben, während er mit großer Begeisterung über die Koproduktion redet. Vorhaben hat sich monatelang mit der deutschen Version des Stücks auseinandergesetzt und ist am 20. Dezember nach Leuven gekommen, um sich die deutsche Version nochmal mit seinem Freund Stijn Devillé in Belgien anzuschauen. Wir haben uns im idyllischen Café Entrepot, dem Hotspot für Theaterliebhaber, verabredet, um über seine Arbeit und dieses Stück zu reden.
Der technische Aspekt der Dramaturgie: unbekannt, unverlangt?
Guten Tag, Herr Vorhaben. Sie sind Dramaturg: Was beinhaltet der Job als Dramaturg nun genau? Was ist der Unterschied zwischen einem Dramaturg und einem Regisseur?
Zusammen mit dem Regisseur leite ich die Theaterabteilung, aber auch Opera, Tanz und Musik gehören dazu. Der Hauptteil meines Jobs ist ja zu entscheiden, welcher Regisseur bei uns arbeiten wird und welche Stücke wir aufführen. Ich mache das zusammen mit meinem Team von drei anderen Kollegen, die auch Dramaturgen sind. Eigentlich war der ursprüngliche Plan, um aus dem vergangenen Zeitraum 2020-2021 das Jahr der deutschen Geschichte zu machen, weil 1871 das Jahr ist, in dem die Teilstaaten zusammengekommen sind und Deutschland gegründet worden ist. Und dann gab es die Idee, um die Geschichte von Deutschland vom 19. Jahrhundert bis heute zu erzählen.
Was war Ihre Verantwortung für die Vorstellung Frieden, Liebe und Freiheit?
Ich sollte eigentlich als Erster den Text lesen und Stijn Feedback darüber geben. Im Allgemeinen ist es mein Job, um bei den Proben anwesend zu sein. Das war jetzt ein bisschen schwierig, weil alles durch Covid doch anders als geplant verlaufen ist. Wir haben meistens hier in Belgien geprobt: Zuerst drei Wochen in Mainz, dann drei Wochen hier und zuletzt zwei Wochen in Köln. Es war nicht völlig möglich in Deutschland wegen der Restriktionen und weil die Mehrheit des Teams aus Flandern war. Dadurch war es für mich nicht so einfach, den Proben beizuwohnen. Außerdem produziert man in Belgien und Deutschland auf verschiedene Weisen und ich war dafür zuständig, das ein bisschen zu begleiten.
Welche Unterschiede gibt es denn zwischen Belgien und Deutschland in Bezug auf Produktionsweise oder Spielstil?
Ich gehöre zu einer Repertoiregesellschaft. Eine Gruppe von Schauspielern probt eine Produktion und dann spielen sie diese zwei Monate. Sie reisen herum und spielen das Stück dann vor Ort, in einem bestimmten Theater. Und nach zwei Monaten ist es mehr oder weniger abgelaufen. Wir haben feste Ensembles von fünfundzwanzig Schauspielern. Alle spielen vier neue Produktionen pro Jahr, aber sie nehmen auch noch zwei oder drei andere Stücke wieder auf. Dadurch proben sie morgens etwas, aber abends spielen sie andere Produktionen. Und das ist ein Unterschied im Vergleich zu Belgien. Aber es ist auch ein Mentalitätsunterschied, weil die Auffassung vom ‘Schauspieler sein’ leicht anders ist.
Auf welche Weise unterscheiden sich die Auffassungen vom Schauspielerberuf in beiden Ländern?
Die Schauspieler aus Flandern sind sich selbst auf der Bühne, sich selbst die eine Rolle spielen. Aber in Deutschland ist es mehr: „ich spiel eine Rolle“ und man ist selber nicht mehr von Bedeutung. Das ist also eine ganz andere Weise, wie man sich mit einer Figur an die Arbeit macht. Das ist sehr interessant, und darum machen wir auch diese Koproduktionen, um diese verschiedenen Stilarten zu entdecken. Ein weiteres Beispiel: In Deutschland ist der Regisseur meistens die wichtigste Person im Raum. Aber hier spricht jeder über alles. Man spricht mit seinen Kollegen über wen welche Rolle spielt. Das würde in Deutschland so nicht passieren. Da spricht nur der Regisseur mit jedem Schauspieler über seine Rolle, und die Schauspieler reden nicht miteinander darüber.
Außerdem gibt es Unterschiede zwischen den flämischen und deutschen Schauspielern. In der deutschen Version spielt die deutsche Schauspielerin Lisa Eder neben Serge Fouha, der eigentlich aus Kamerun kommt, aber von dem französischen Theater ausgebildet ist. Der dritte Schauspieler ist Michäel Pas, der ein Flame ist. Eine deutsche Schauspielerin spielt die russische Ballerina Lydia Lopokova, ein flämischer Schauspieler spielt den englischen Ambassadeur John Maynard Keynes und ein französischsprachiger Schauspieler spielt Charles D.B. King aus Liberia, der eigentlich englischsprachig ist. Also, was die deutsche Version so besonders macht, ist, dass drei unterschiedliche Weisen von Spielen zusammenkommen und das ist auch ein bisschen die Absicht dieses Stücks. Es gibt dort auch drei sehr unterschiedliche Menschen, die zusammenkommen ohne sich je begegnet zu sein und die auch aus verschiedenen Welten kommen. Und das war ebenfalls dieselbe Situation bei der Probe. Und das ist, glaub ich, noch anders als drei flämische Schauspieler die zusammenkommen und die einen ähnlichen Spielstil haben.
Frieden, Liebe und Freiheit
Das Stück handelt von Debatten über Freiheit, Liebe und Frieden. Was halten Sie von diesen Themen und was ist für Sie das Wichtigste?
Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, dass man nur wenn man Frieden hat, auch Freiheit hat und, dass man nur wirklich die Liebe genießen kann, wenn man die richtigen Umstände hat. Die Frage, ob wir heutzutage wirklich mehr Freiheit als damals haben, finde ich die Interessanteste. Wer darf frei reisen, wer darf nach Europa kommen? Was ist Freiheit? Und das ist im Moment eine unglaublich aktuelle Diskussion: In Deutschland gibt’s die Frage, ob man seine eigene Freiheit haben darf oder, ob man sich für die Gesellschaft impfen soll, um diese Freiheit zu haben.
Bei Liebe ist es genauso. Keynes war zuerst schwul, aber verliebte sich dann doch in Lydia Lopokova und er hat sie dann geheiratet. Er war auch Teil des Bloomsburykreises von Virginia Woolf und es ist wirklich interessant zu betrachten, wie sie Liebe sahen. Seine Bisexualität ist ein besprochenes Thema, das man sieht, oder spürt, aber sie wird nicht diskutiert. Aber sie ist schon da und wird auch nicht problematisiert. Ich finde das sehr toll, weil Keynes ein bisschen in Verwirrung ist: Bis zu diesem Punkt war er vor allem schwul.
Unterscheiden sich die Meinungen über den Versailler Vertrag und das politische Klima der drei Protagonisten wesentlich oder sind sie ähnlich?
Ich denke, dass sich die Figuren gegenseitig in Verwirrung bringen. Jeder hat einen anderen Grund, warum er im Hotel ist. Und ich glaube, dass sie nach dem Stück, oder nach einem Teil des Stücks, den Punkt der anderen Menschen verstehen, aber das macht nicht, dass die Meinungen sich annähern. Es bleibt ein Unterschied, auch ein Unterschied in Position. Jemand als Charles D.B. King wird weniger zu Sitzungen eingeladen als z.B. ein Sprecher der drei Großmächte. Es geht um Macht, und wie man etwas erreichen kann.
Das Stück geht auch darum, wie die Geschichte weitergeht, wer was während des Zeichnens vom Vertrag aufgepickt hat. Es ist kein abgeschlossenes Geschichtestück. Es handelt sich um viele Konflikte, die immer noch bestehen.
Frieden, Liebe und Freiheit ist nicht das einzige Stück von Jörg Vorhaben, das einen zeitgenössischen Ansatz hat. Weitere Werke von ihm, die heute noch immer laufen, sind Sensemann & Söhne, eine Koproduktion mit dem Deutschen Nationaltheater Weimar, die sich um das Thema Tod dreht, oder das digital zugängliche Stück Was denn da fehlt, eine packende Autobiografie. Interessante Figuren und schwierige Themen sind auch hier das Markenzeichen und regen den Zuschauer an sich damit auseinanderzusetzen, was es bedeutet, frei zu sein, zu lieben und in Frieden zu leben.